Leben im gesellschaftlichen Wandel
In Japan bebt die Erde als ich "Lösungsfokussiert gut beraten" rezensiere. Wie jeder weiß, war dies nur der Anfang eines anhaltenden Infernos. Das Land kämpft mit der Zerstörung von Lebensraum, der wirtschaftlichen Infrastruktur und einer atomaren Katastrophe. Wer das eigene Leben retten kann weiß nicht, mit welchen Langzeitschäden in den nächsten Jahrzehnten zu rechnen ist. Naturgewalt und leckgeschlagene Atomtechnik bedrohen die Zivilisation. Sie machen das Leben unberechenbar und unsicher. Diese Erkenntnis und Problematik trifft nicht nur Japan. Sie trifft global und mitten ins Leben. Auch in unseres, das seit Beginn des 21. Jahrhunderts ständig in seinem Gefüge wackelt.
Bentners und Krenzins Neuerscheinung "Lösungsfokussiert gut beraten" besticht gleich zu Beginn mit einem Brückenschlag zur derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung. Die Schlagworte lauten: Finanz- und Wirtschaftskrise, Übergang von einer nationalen Industrie- in eine globalisierte Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, Umbau der Arbeitswelt, terroristische Anschläge, Klimawandel und Naturkatastrophen.
Dieser extreme Wandel (Extreme Change) bildet sich auch im sozialen gesellschaftlichen Gefüge ab. Denn wir leben in einer Zeit des Bedeutungswandels von Kindern und Kindheit.
Eltern stehen heute unter starkem Druck, ihre Kinder zu beruflich erfolgreichen Menschen zu erziehen. Die Rahmensetzung lautet: intensive Förderung bei enger Kontrolle und geringem Spielraum der Kinder. Ökonomisch positive Bedingungen und gesellschaftliche Teilhabe sind entscheidend für den Bildungsverlauf. Dieser gesellschaftliche Druck führt dazu, dass sich immer mehr Eltern ihrer Erziehungsaufgabe nicht mehr gewachsen fühlen. Aus Überforderung resultiert Vernachlässigung, Verwahrlosung und nicht zuletzt Bildungsarmut. Das Gefälle lässt sich auch geschlechtsspezifisch betrachten: Gelten Jungen als Bildungsverlierer, so stehen Mädchen und Frauen auf der Gewinnerseite. An den weiterführenden Schulen erwerben sie die Mehrheit der Abschlüsse, und unter den Studienanfängern haben sie bereits 1995 erstmals die Männer überholt.
Die Einflüsse der Informationstechnologie auf die Entwicklung der Heranwachsenden sind unübersehbar. Die Generation der nach 1980 Geborenen (Digital Natives) wurde als erste Generation ins digitale Zeitalter hineingeboren. Sie wächst mit Computer, Fernseher, Handys etc. auf während sich ihr Gehirn noch entwickelt. Im Vergleich zur ihren Eltern lernen, kommunizieren und arbeiten Heranwachsende heute anders, haben Mehrfach-Identitäten und eine durch diese Technologien geprägte, veränderte kognitive Entwicklung.
Was hat all dies mit lösungsorientierter Beratung zu tun?
Lösungsfokussierung ist mehr als ein BeratungsansatzDiese Blickrichtung ist wichtig, um zu verstehen, warum lösungsfokussierte Beratung für die Autorinnen mehr ist als ein Beratungsansatz: Stärke und Aktualität liegen in seiner Anschlussfähigkeit zu gesellschaftlichen Entwicklungen und neusten Forschungsergebnissen im Bereich Resilienz (psychische Beweglichkeit und Widerstandskraft), Salutogenese (Selbstwirksamkeit) und Bindungstheorie (frühkindliche Bindungserfahrungen). In diesen Ansätzen geht es um die heilsame Gestaltung sozialer Beziehungen vor dem biografischen Hintergrund eigener Mangel- oder Mißhandlungserfahrung, die ja vielfach bei den Zielgruppen psychosozialen Arbeitens eine Rolle spielen. Verlassen wird dabei das typisch europäische Denken, das die Suche nach einem Ursache-Wirkungsverhältnis zugrunde legt und in eine "Problemtrance" mündet.
Bentner und Krenzin verfolgen in diesem Zusammenhang Elemente des Konstruktivismus, systemtheoretische und hypnotherapeutische Grundlagen, um darzustellen wie sie Eingang in das lösungsfokussierte Denkparadigma fanden. Ein besonderer Stellenwert nimmt dabei das Thema Resilienz ein. Resilienz als Forschungsprogramm und Haltung kann gerade in chaotischen und unsicheren Zeiten wie den gegenwärtigen eine enorme Kraft darstellen und Alternativen zur Resignation und zum Abdriften in Leid und Störungen aufzeigen, so die These von Bentner und Krenzin. Den externalen gesellschaftlichen Faktoren werden internale Ressourcen entgegengestellt. Hierzu gehören: Optimismus, Akzeptanz, Lösungsfokussierung, Überwindung der Opfer-Perspektive, Verantwortung übernehmen, Netzwerk-Orientierung, Zukunftsplanung. An die Stelle von Problemen treten Lösungen, Ressourcen und Kompetenzen. "Credo hierfür ist Steve de Shazers berühmt gewordenes Statement: Problem talk creates problems, solution talk creates solutions. Das gilt übrigens nicht nur für den Umgang mit Patienten und Klienten, sondern auch für den Umgang mit Kollegen, Vorgesetzten und anderen Berufsgruppen", so die Autorinnen.
Theoretische GrundlagenBentner und Krenzin beziehen sich im Kern auf das Konzept des Instituts für Kurzzeittherapie von Steve des Shazer und Insoo Kim Berg in Milwaukee, dem BFTC (Brief Familiy Therapie Center). Zentral für deren lösungsfokussierten Ansatz ist die Annahme, dass auch bei schweren Symptomen bzw. Einschränkungen die Suche nach Ausnahmen und dem Funktionierenden lohnenswerter ist, als das Reden über Probleme. Wichtig ist einer der Grundgedanken von Milton Erickson, der Interventionen als Schlüssel zu Veränderungen einsetzte. Die Kurzform lautet: Was funktioniert und niemanden schädigt, mache mehr davon. Was nicht funktioniert - versuche etwas anderes. Die Milwaukee-Schule hat daraus das "Prinzip der 12 Türen" beschrieben. Das besondere Augenmerk ist zu richten auf:
- Verhaltensweisen oder eine Verhaltenssequenz
- Bedeutungen, die einer Situation zugeschrieben werden
- Häufigkeit des beklagten Geschehens
- Schauplatz des beklagten Geschehens
- Maß der Unfreiwilligkeit des beklagten Geschehens
- Wichtige Bezugspersonen im Zusammenhang mit dem beklagten Geschehen
- Frage, wer dafür verantwortlich zu machen ist
- Äußerer Kontext (Berufstätigkeit, ökonomischer Status, Lebenskreis etc.)
- Physiologische Befindlichkeit
- Vergangenheit
- Düsteres Zukunftsbild
- Utopische Erwartungen
Die Praxis wird konkret im Methodenteil mit den drei Stationen: einsteigen/beraten/beenden.
Beratung konkretIm Methodenkapitel begleiten Bentner und Krenzin den Therapeuten/Berater vom Beginn bis zum erfolgreichen oder nicht erfolgreichen Abschluss. Hierzu gehören systemische Methoden zum guten Beratungseinstieg und Leitfragen zur Auftragsklärung. Sie betonen die Wichtigkeit einer klaren Selbstdefinition als Berater und umfassenden Produktinformation. Anhand von konkreten Beratungsgesprächen werden vielfältige Beratungsmethoden vorgestellt. Die Beispiele beleuchten den Umgang mit beruflichen Fragestellungen genauso wie private Problemkonstellation oder Erziehungsfragen. Abbildungen und Fotos zu den angewandten Methoden ermöglichen beim Lesen den anschaulichen Nachvollzug.
Die vorgestellten Methoden im Einzelnen:
- Die Wunderfrage aus der Hypnotherapie: "Wie werden die Dinge für Sie und andere Menschen aussehen, wenn das Problem schon jetzt gelöst wäre?"
- Das lösungsorientierte Interview (mit Interviewleitfaden)
- Futur Perfect: Wie soll es anders werden und wie wird sich das auswirken?Funktionierende Vorboten: Was ist schon alles versucht worden und was hat am ehesten (zumindest etwas) funktioniert?
- Kleine Schritte: Was wären erste kleine Schritte in die gewünschte Richtung? Oder: Was wären erste Anzeichen eines Fortschritts?
- Der Dreh: Hinwendung zur Ausnahmefrage
- Dreidimensionale Skalierungsfrage (Wichtigkeit, Bereitschaft, Zuversicht) mit Leitfragen
- Arbeit mit Metaphern
- Wertschätzender Solution-Talk
- Die lösungsorientierte Fischgräte (Homöostase, Verschlimmerung, Verbesserung) mit Leitfragen, die auch für Teams geeignet ist
- Problemlösungstreppe (von der Problemorientierung zur Lösungsorientierung)
- Umgang mit Restriktionen (Unabänderlichkeiten) = davon ablassen
· Selbstcoaching, Karriere-Coaching, Genius-Beratung - Regeln in Systemen
- Tetralemma (für Ambivalenzthemen)
- Entscheidungssonne
- Methode zur kollegialen Fallberatung
In einem Anhang werden zu diesen Methoden Arbeitsmaterialien zur Verfügung gestellt
EmpfehlungBentner und Krenzin haben ein überaus lesenswertes und gut verständliches Fachbuch geschrieben. Dessen Stärke ist es, gesellschaftliche Bedingungen, theoretische Grundlagen, methodisches Handwerkszeug und Beispiele aus der Beratungspraxis inhaltlich zu verbinden. Eine klare Gliederung ermöglicht es, zwischen den einzelnen Schwerpunkten hin und herzuspringen oder doch alles im Gesamten zu lesen. In anschaulichen Beispielen wird gezeigt, wie es möglich ist, am Gelingenden anzusetzen, anstatt in Defiziten und Problemerörterungen zu verharren. Die Verbindung zur aktuellen Forschung im Hinblick auf Resilienz, Bindungstheorie und Salutognese setzt sinnvolle theoretische Verbindungen.
Bentner und Krenzin sind Praktikerinnen, Theoretikerinnen und Beobachterinnen der gesellschaftlichen Realität. Dies erzeugt beim Lesen den Eindruck eines gelungenen Theorie Praxis Transfers mit Blick auf unsere gesellschaftliche Realität und deren Auswirkungen auf Menschen. Insofern transportiert das Buch auch eine soziale Dimension im Sinne von gesellschaftlicher Verantwortung.
Grundsätzlich wirkt die Sicht auf Lösungen befreiend. Dies führt beim Lesen zu spontanen Aha-Erlebnissen. Wir lernen eine Sicht kennen, die offen ist für verschiedene Wege. Wichtig bleibt, dass sie zum Ziel führen und niemanden schädigen. Hier wird eine Denkrichtung gezeigt, die tatsächlich mehr ist als ein Beratungsansatz. Lösungsfokussierung ist eine Haltung, mit der Antworten auf komplexe Fragestellungen und "Probleme" gefunden werden. Dies ist gut so. Denn der gesellschaftliche Wandel entfaltet seine Dynamik unentwegt und teilweise dramatisch. Wir als Betroffene, Handelnde, Lehrende oder Beratende sind Teil dieses Räderwerks, das beständig nach innovativen Lösungen sucht: Immer wieder neu.
"Lösungsfokussiert gut beraten" ist für Studierende, Lehrende, Therapeuten, Berater und Praktiker in psychosozialen Beratungsfeldern eine sehr lesenswerte Neuerscheinung.