„Diagnostizieren lohnt sich“ war ein Satz, den mir mein Professor für Persönlichkeitsdiagnostik im Studium mit auf den Weg gab. Ich habe oft überlegt, für welche Hinsichten dies stimmt. Diagnostik ist die Erfassung von wesentlichen Charakteristiken eines Phänomens. Diagnostik gilt traditionellerweise als die Grundlage für die Arbeit mit Menschen; sie musste aber gerade aus der systemischen Perspektive eine Menge kritischer Reflexionen (Schablonisierung, Kästchendenken, Veränderungshemmnis ...) überstehen.
In dem von Möller & Kotte vorgelegten Buch antworten nun 26 Experten als Autoren zu Fragestellungen der Diagnostik im Coaching. Das Verständnis von Diagnostik ist hier ein weit gefasstes, das einerseits vom Sammeln der Informationen bis zur Begründung sich darauf beziehender Handlungen und andererseits vom Einzelsystem Person bis hin zum organisationalen Umfeld reicht. Diagnostik wird gesehen als eine genaue und systematische Erfassung der Ausgangssituation des Coachs für das Coaching.
Nach einem Einführungskapitel werden schulen-spezifische Zugänge zum Coaching (psychodynamisch, psychodramatisch, gestaltorientiert und kognitiv-behavioral) vorgestellt. Darauf folgen diagnostische Ansätze für die einzelnen Coaching-Ebenen (Person, Rolle, Team, Organisation). Am Ende steht ein zusammenfassender Systematisierungsversuch, in dem Heidi Möller einen praktischen Leitfaden vorstellt.
Die einzelnen Experten repräsentieren ein weites Spektrum im diagnostischen Vorgehen. Hier nur einige Beispiele: Im mehr methodischen Teil wird psychometrische Diagnostik der Persönlichkeit genauso betrachtet wie der Karriereanker von Ed Schein, der stärker berufsbezogen ist. Selbst der Thematische Apperzeptionstest, der als typisches projektives Verfahren, d.h. über mittelbare Inhalte diagnostische Informationen ermittelt, findet hier Raum. Christine Kaul hat Verhaltensbeobachtung in den Fokus gestellt. Darunter fällt auch das shadowing, in dem der Coach den Klienten im Arbeitsalltag begleitet und dort konkrete Verhaltenskostproben geliefert bekommt, an denen das Coaching anknüpfen kann. Astrid Schreyögg beschreibt die Möglichkeiten des Einsatzes kreativer Materialmedien von Malen über Ton bis hin zur Arbeit mit Figuren. In den Coaching-Ebenen, beispielsweise der Rollenebene, werden das Rollogramm und das Rollenatom vorgestellt.
Die Analyseebenen, die sich auf die Organisation beziehen, sind noch sehr stark auf das Erleben der Organisation bezogen. Der Organisationsbegriff, der zugrunde gelegt wird, ist am von der klassischen Unternehmensberatung importierten Dreiklang Strategie, Struktur und Kultur orientiert.
Der praktische Leitfaden am Ende des Buches reicht von einem Schwerpunkt mit persönlichen Informationen hin zu Rollenaspekten. Insgesamt beleuchtet der Leitfaden die wesentlichen Punkte. Sehr schön ist hier auch die Integration von Elementen wie der Gegenübertragung, die der Coach bei sich verspürt. Etwas kurz ist das Thema der umgebenden Organisation gefasst.
Das Coaching-Verständnis, das hier verwendet wird, bezieht Coaching auf die Schnittstelle zwischen Person und Organisation. Durch die Auswahl der Beiträge wird aber auch klar, inwieweit Coaching immer noch von den Wurzeln in der Psychotherapie getragen ist. Die meisten Perspektiven und auch die meisten Methoden finden sich genauso in der Psychotherapie wieder oder haben dort ihre Wurzeln.
Fazit: Insgesamt gibt das Buch einen guten Überblick über die Möglichkeiten der Diagnostik. Es gibt für den Coaching-Lernenden wie auch für den Praktiker, der sich schon sein diagnostisches Vorgehen zurechtgelegt hat, eine Menge Anregungen.