"Wie wird man zum Top-Coach?" fragt Autor Martin Wehrle, der sich nach einer Führungsrolle im Konzern als Berater selbstständig gemacht hat. Seine Antwort lautet einleuchtend: "Möglichst viel sich selbst und vor allem auch andere coachen!", also die Erfahrung macht es letztlich aus. Dabei kann Fachliteratur, insbesondere in Form von praktischen Anregungen nützlich sein. Jedoch ist in seinen Augen die Mehrzahl der Coaching-Bücher oft eher wissenschaftlich inspiriert - eine These, die sich durchaus kritisch hinterfragen ließe.
Als Kontrastprogramm stellt er nun in seinem Buch etliche Übungen für die Praxis vor, wenngleich der Titel sogar als "Understatement" verstanden werden kann: Anstelle der angekündigten 100 Übungen sind darin fast 200 Vorschläge enthalten, dabei meist eine Version für den Alltag und eine weitere für die Coaching-Praxis. Damit wird deutlich, dass sich der Leser mit einer Fülle an Material auseinanderzusetzen hat, es umfasst über 350 Seiten. Das Buch enthält dabei Übungsblöcke entlang folgender Themen: Einstieg, Kommunikation, Sprache, Emotionen, Ziele, Werte und Wahrnehmung, Ressourcen, Fantasie, Praxistransfer und Abschluss.
Hierunter finden sich zum einen etliche "alte Bekannte" wie Skalierungsfragen, Problem- oder Zieldefinitionen, Lebenslinien-Visualisierungen oder das "innere Parlament" und die "Wunderfrage". Wohltuend "ideologielos" werden diese sowohl dem NLP als auch der systemischen Lehre entnommen, oftmals aber auch erstmalig aus der eigenen beruflichen Praxis gewonnen. So gefiel dem Rezensenten die sogenannte "Schneeglöckchen-Suche", wonach der Klient schon erste Anzeichen für eine bald anstehende Problemlösung aufzeigen soll, die als "Vorboten des herannahenden Frühlings" interpretiert werden können.
Auch die übrigen Übungen werden stets mit griffigen Labels versehen wie "Die Ballonreise", "Die Sackgassen-Besichtigung" oder "Die Traumhochzeit". Sie werden recht anschaulich anhand von Nutzen, Ziel, Praxis-Tipp und Risiken erläutert, wobei ein Umsetzungsplan der jeweiligen Alltagsübung Vorschub leisten soll, die dann in das eigentliche Coaching integriert werden kann. Somit steht fest, dass sich durch eine intensive Beschäftigung mit dem Buch eine Menge Coaching-Erfahrung erarbeiten lässt. Für eine didaktische Verwendung eigenen sich die diversen Fallbeispiele, anhand derer direkt ausgewählte Übungen angewendet werden sollen. Lehr-Coachs können diese Fundgrube sicherlich nutzen, wenngleich das Ergebnis etwas künstlich-abstrakt bleiben mag.
Doch trotz solcher potenziellen Anwendungsbeispiele verbleibt letztlich ein differenzierter Eindruck diesem Buch gegenüber: Die fachliche Expertise des Autors ist sicherlich gegeben, ebenso die Verständlichkeit und die Praxisorientierung. Auf der anderen Seite fällt es dem Rezensenten bei den besagten 100 oder gar 200 Übungen schwer, den Überblick zu behalten und die "Spreu vom Weizen" zu trennen. Hier wäre (mal wieder) "weniger mehr" gewesen, weil die Vielzahl der Übungen zum interessierten Weiterblättern einlädt. Auch stellt sich die Frage, ob nicht ein Karten-Set als alternatives Medium von Vorteil gegenüber einem herkömmlichen Buch gewesen wäre (aber auch diese Nische der Coaching-Literatur ist mittlerweile mehrfach besetzt).
Gleichwohl erhält der Leser - besser noch der Anwender - auch in der vorliegenden Form für knapp 50 Euro eine Menge Werkzeug für die eigene Praxis, das mit etwas Engagement und Vertiefung durchaus förderlich umgesetzt werden kann.
Prof. Dr. Klaus Stulle
Corporate Human Resources, Bayer AG, Leverkusen