Die Literatur über Coaching ist in den letzten Jahren explodiert. Ähnliches trifft für das Thema "Führung" zu. (Fast) jeder Coach bzw. Führungskräftetrainer, der auf dem heiß umkämpften Markt seine Position sichern bzw. verbessern will, meint, ein Buch schreiben zu müssen - auch wenn er nicht viel Neues zu sagen hat. Das Resultat ist oft "alter Wein in neuen Schläuchen". - Dieses Urteil trifft für Rolf Arnold nicht zu. Denn sein neues Buch beinhaltet einen - fiktiven - aus zehn Briefen bestehenden Briefwechsel zwischen einer Führungskraft und einem Professor, bei dem sie studiert hat und der sie bereits früher als Mentor und Freund in schwierigen Phasen begleitet hat. In Verbindung mit dem im Titel angekündigten "Methoden-ABC" mit seinen insgesamt 23
Selbst-Coaching-Tools nährt diese Anlage die Erwartung, intime Einblicke in einen Coaching-Prozess zu erhalten, der das Medium des Briefe-Schreibens nutzt und sich damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem bisher noch relativ wenig untersuchten E-Mail-Coaching zu positionieren scheint.
Diese Erwartung wird nur bedingt erfüllt. Auf den ersten Blick mag das eine Enttäuschung sein - auf den zweiten ist es ein Gewinn. Denn die zehn Briefe, die sich Bernhard, der fiktive Klient, und sein Coach Karl gegenseitig schreiben, dokumentieren genau betrachtet keinen Coaching-Prozess. Es sind vielmehr eher Lehrbriefe, die sich an den Leser wenden, um ihm Möglichkeiten zur Verbesserung seiner Selbstführung zu weisen, und dabei - das ist entscheidend - das Medium des Briefs didaktisch nutzen, um grundsätzliche Fragen moderner Biografie-Arbeit zu diskutieren. Damit wird erkennbar, was das zentrale Anliegen des Autors ist, nämlich im thematischen Medium von Coaching und
Selbst-Coaching/Selbstführung die Möglichkeiten eines normativen Bezugspunkts einer zeitgerechten Erwachsenenbildung auszuloten.
In diesem Sinne lädt der Autor den Leser zu einer Reise ein, die auf den ersten Blick eine deutliche Nähe zur Psychotherapie hat. Sie beginnt mit der "selbstarchäologischen" Rekonstruktion der eigenen "Deutungs-Gefühls-Programme". Um ihnen auf die Spur zu kommen und sie enttarnen zu können, bietet der Autor ein Selbst-Coaching-Tool an, das den Leser auffordert, seinen Umgang mit Anerkennung, Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit zu erkennen, und zwar mit Hilfe der drei grundlegenden Coaching-Fragen: (1) "Wo, wann und wie habe ich echte Anerkennung (Abhängigkeit bzw. Zuwendung) erlebt? Bzw.: Wo, wann und wie habe ich mich unwirksam erlebt?" (2) "Wer hat dabei was gesagt?" und (3) "Welche Gefühle hatte ich in diesen Situationen?". Der weitere Weg dieser Reise in die Tiefen des eigenen Selbst macht den Leser bekannt mit Techniken des "suchenden Lauschens" und "Fragen an das innere Kind", er lernt einen "Macht-Check" kennen und bekommt Tipps zur "Entschleunigung des Erlebens".
Sozusagen die Endstation oder - anders betrachtet - das Ziel dieser Reise ist schließlich das Konzept spiritueller Selbstführung. Es ist die Selbsterkenntnis des eigenen Existenzgrundes, der dem eigenen Selbst eine verlässliche Sinnbasis und -perspektive gibt. Um diesen tiefsten eigenen Grund zu spüren und sein Leben an ihm auszurichten, ist ein fünffacher Sieg über sich selbst notwendig, nämlich "Rückgebundenheit" durch den "Sieg über die innere Verlorenheit" ("die eigene Endlichkeit und die der anderen bewusst sehen, das Ganze auf die richtigen Dinge hin ausrichten können"), "Zugewandtheit" durch den "Sieg über narzisstische Angetriebenheit" ("stets auch an dem Wachstum des anderen orientiert sein, auf Dialog statt auf Kampf eingestellt sein"), "Gelassenheit" durch den "Sieg über innere und äußere Unruhestifter" ("Präsenz und Klarheit ausdrücken können, emotionale Resonanz erreichen können"), "strategische Stringenz" durch den "Sieg über Angst und den Schlendrian" ("Ziele mit innerer Sicherheit benennen können, die notwendigen Schritte markieren können") und "Machtverzicht" durch den "Sieg über Egoismus" ("abschiedlich leben können,
auf Optionen verzichten können"). Der auf diesem Wege bzw. in diesen Kämpfen gefundene bzw. freigelegte Referenzpunkt des eigenen existenziellen Selbst ist eine spirituelle Kompetenz, die Rolf Arnold für "die" Core-Competenz einer jeden Führungskraft hält - und zwar deshalb, weil der existenzielle Kontakt zu sich selbst die notwendige Voraussetzung für menschlichen Kontakt zu anderen ist und man ohne den Bezug zum existenziellen Kern des eigenen Selbst keine Verantwortung für andere übernehmen kann.
Diese Argumentationslinie lässt erkennen, dass es hier im Grunde um weit mehr als um das
Selbst-Coaching von Führungskräften geht, nämlich um die Frage, wie sich Erwachsenenbildung unter den aktuellen Bedingungen der Postmoderne begründen kann. Die Antwort, die Rolf Arnold gibt, lautet: Erwachsenenbildung muss eine normative Orientierung geben, die dem Einzelnen nicht von außen angetragen wird, sondern von ihm mit methodischer Anleitung der Erwachsenenbildung selbst gefunden werden muss, und zwar als jener oben beschriebene existenzielle Referenzpunkt. Dem Einzelnen eine solche methodische Anleitung zu geben, wird damit zur Zentralaufgabe von Erwachsenenbildung. Zwischen den Zeilen gelesen, bedeutet das: Moderne Erwachsenenbildung sollte sich in ihrem Kern als Persönlichkeits-Coaching begründen. Eine meines Erachtens äußerst positive Nebenfolge wäre, dass der konzeptionell zersplitterte und nicht immer auf sehr hohem Niveau geführte Diskurs über Coaching auf diese Weise eine anspruchsvolle erwachsenenpädagogische Grundlage erhielte.
Professor Dr. Harald Geißler
Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
www.online-coaching-lernen.de