Cover: Coaching und Psychotherapie: Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Abgrenzung oder Integration?. Wiesbaden: VS.
Bernhard Grimmer, Marius Neukom

Coaching und Psychotherapie: Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Abgrenzung oder Integration?. Wiesbaden: VS.

Rezension von Dr. Michael Loebbert

3 Min.

Bernhard Grimmer und Marius Neukom bezeichnen sich selbst als "psychodynamische" Coachs und Psychotherapeuten. Sie legen eine sozialwissenschaftliche Studie zum Verständnis des Verhältnisses von "Coaching" und "Psychotherapie" von 30 Personalentwicklerinnen in Schweizer Großunternehmen vor. Das wird spannend.
"Das Ziel unseres Forschungsprojekts bestand darin, herauszufinden, welches Expertenwissen und welche handlungsleitende Konzepte von Coaching und Psychotherapie in großen Unternehmen oder Verwaltungen heute bestehen und Anwendung finden" (S. 37). Dafür legen die Autoren ein hervorragend strukturiertes Untersuchungsdesign vor: Basis sind die Ergebnisse halbstrukturierter Interviews, die sowohl einer qualitativen als auch quantitativen Analyse unterzogen werden. Ihre Probanden halten sie für "Schlüsselpersonen für die Initiierung von Coachings oder die Empfehlung von Psychotherapien" (S. 37). Mit der Unterstützung des Softwareprogramms Atlas.ti und dem Konzept der gegenstandsverankernden Theoriebildung ("grounded theory") werden handlungsleitende, eigentlich entscheidungsleitende, Vorstellungen der Probanden herausgearbeitet. Ergebnis ist, dass es sowohl im Verständnis von Coaching als auch im Verständnis von Psychotherapie einer relativ homogenen Untersuchungsgruppe Abweichungen einerseits als auch ein gemeinsames Kernverständnis gibt.
Coaching wird mehr den berufsbezogenen Fragestellungen zugeordnet. Es geht um die Arbeit an konkreten Zielen. Der Prozess ist zeitlich begrenzt und Klientinnen sollen ihre Lösungen möglichst selbstständig erarbeiten. Der Coach ist förderndes und ermutigendes Gegenüber, Förderer und Partner. Unterschiedliche Auffassungen vertraten die Interviewpartnerinnen in Bezug auf gewünschte Ausbildung von Coachs, die Rolle wissenschaftlicher Theoriebildungen, die Abgrenzung zu anderen Beratungsformaten wie Supervision und Mediation.
Für die Auswertung der Interviews zum Thema Psychotherapie weisen die Autoren auf die "Forschungslücke" für Verständnis von Psychotherapie im beruflichen Umfeld hin. Interessant ist, dass bis auf einen Interviewpartner alle anderen Personalentwicklerinnen Psychotherapie im Zusammenhang einer ärztlichen Diagnose oder medizinischen Indikation sehen. Im Mittelpunkt stehen Themen der Persönlichkeit, Probleme aus der Kindheit, seelische Verletzungen. Vom Psychotherapeuten wird eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung erwartet. Selbst sehen Personalentwickler ihre Rolle nicht darin, Psychotherapie in ihren Unternehmen zu verankern.
Sprachlich auffällig ist, dass die untersuchten Interviewpartner im Psychotherapiekapitel des vorgelegten Buches immer häufiger als "Coaching-Experten" adressiert werden. Sie empfehlen Psychotherapie aus der Perspektive von Coaching, wenn "Coaching an Grenzen stößt, wenn es sich um tiefer gehende, mehr in der Person verankerte oder die privaten Verhältnisse betreffende Probleme handelt." Daraus ergeben sich für die Autoren Fragen in Bezug auf die Wertschätzung ("Imageproblem") psychotherapeutischer Verfahren und die Sensibilität für psychische Störungsbilder. Sie wünschen sich ein besseres Verständnis für Psychotherapie im betrieblichen Zusammenhang.
Hervorzuheben sind die, auch für die Praxis erhellenden Systematisierungsversuche für Anlässe, Funktionen und Rollenprofile im Coaching. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist die Untersuchung eine Bestätigung für die mögliche Abgrenzung gesellschaftlicher Praktiken: Coaching bezieht sich darin auf die Leitunterscheidung von Leistung und Nichtleistung, Psychotherapie auf die Leitunterscheidung von Gesundheit und Krankheit. Für die praktische Interventionslehre sei an das Modell der "therapeutischen Tiefung" von Hilarion Petzold (1988) erinnert. Interessanterweise scheinen diese Unterscheidungen den untersuchten Personen nicht zur Verfügung zu stehen.

Und noch ein Ergebnis: "Einigermassen überraschend erscheint uns die Seltenheit der Bezeichnung von Coaching als einer Massnahme zur Leistungsoptimierung" (S. 74). Da fragt sich der sozialwissenschaftlich informierte Leser, wie der Ansatz der Erforschung von Alltagstheorien ("grounded theory") auch in der Lage ist, Tabuzonen der untersuchten Personen zu identifizieren: Haben Personalentwickler Schweizer Großunternehmen eine Leistungsallergie? Und welche Auswirkungen hätte das auf den Einsatz von Coaching?

Dr. Michael Loebbert

Programmleiter Coaching Studies FHNW – Fachhochschule Nordwestschweiz
www.coaching-studies.ch
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