Cover: Coachingwahn. Wie wir uns hemmungslos optimieren lassen.
Erik Lindner

Coachingwahn. Wie wir uns hemmungslos optimieren lassen.

Rezension von Thomas Webers

7 Min.

Wahn! Ein gewaltiges Wort. Es klingt nach BSE, Gaddafi oder Psychiatrie … Ein reißerischer Titel, der zweifellos Aufmerksamkeit erregt und neugierig macht. Ob er hält, was er verspricht? Oder ob sich die Angelegenheit bei näherer Betrachtung nicht bloß als Sturm im Wasserglas herausstellt?
Der Autor ist promovierter Historiker. Von 1999 bis 2007 war er Leiter des Unternehmensarchivs der Axel Springer AG, heute arbeitet er als Schriftsteller. Man darf von ihm also eine profunde Recherche, professionellen Umgang mit Quellen und ein differenziertes Urteil erwarten. "Warum ist es in jüngster Zeit so sehr in Mode gekommen, sich coachen zu lassen?", fragt er in seiner Einleitung zum Buch, um schon wenige Zeilen weiter das Stichwort "Placebo" in Frageform zu platzieren. So wird gehörig Fallhöhe aufgebaut.
Was ist überhaupt Coaching? Der Autor beschreibt Schwierigkeiten bei der Definition von Coaching, erwähnt, dass der Titel nicht geschützt sei, dass es wohl auch etliche zweifelhafte Gestalten im Feld geben müsse, um dann die Wurzel dessen, was sich heute Coaching nennt, bei Timothy Gallwey und dem Mentaltraining (The Inner Game of Tennis, 1974) zu lokalisieren. Angereichert mit Konzepten verschiedener psychologischer Schulen sei daraus Coaching erwachsen, so wie wir es heute, aufgefächert in verschiedene Schulen kennen würden. Nach der Einleitung wird das Feld in drei großen Blöcken präsentiert: Der Coach, die Coachees und die Coaching-Branche. Das Buch schließt mit einem Anhang (Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Glossar etc.).
Was einen Coach ausmache, fragt der Autor einige Zeitgenossen, die sich als der Coaching-Branche zugehörig bezeichnen, die aber dem in dieser Szene Bewanderten nicht immer geläufig sind. So stellt sich die Frage der Auswahl dieser Quellen, über die der Autor die Leserschaft allerdings im Unklaren lässt. Das mag für einen journalistischen Text (leider oftmals) üblich sein. Von einem Text eines studierten Historikers wünscht man sich mehr. Wer Quellen willkürlich benutzt, kann sich jedes Fazit al Gusto erschreiben. Und so wundert sich der Leser auch gelegentlich, dass der Autor Belege für diverse Hypothesen schlicht schuldig bleibt, beispielsweise für diese: "Hunderte mit einem derartigen Ausbildungshintergrund drängen mit Anfang dreißig ins Coaching, weil ihnen sonst keine wirkliche berufliche Perspektive aufscheint" (S. 27). Solcherlei Behauptungen verbleiben weitgehend spekulativ.
So wird allerdings nachvollziehbar, dass man sich als Autor schon einmal in Rage schreiben kann über "wüste Schaumschlägerei" oder "Abkassieren" (S. 31). Es "ergibt" sich ja quasi aus der Argumentation, warum das noch begründen? Abgemildert wird die Suada durch relativierende Beifügungen wie "oft genug" oder "nicht immer". So kann im Kopf des Lesers suggestiv ein prägnanter Eindruck von Empörung entstehen, ohne dass der Autor sich wirklich festgelegt hat. Wenn dieser sich dann einmal aus dem Fenster lehnt, beispielsweise mit einer Typologie der Coachs, wird es nicht erhellender: Die Diva, der Autodidakt … Es werden keinerlei Belege für solcherlei Kategorisierungen angebracht, sie sind rein spekulativ, aber aufmerksamkeitserregend durch gezielte Emotionalisierung. Das Muster ist nur all zu simpel: Da der Coaching-Markt grenzenlos ist, mangels definitorischer oder ordnungspolitischer Grenzziehung, pickt man sich ein paar groteske Beispiele heraus und lässt sie dann für die Coaching-Szene sprechen. Erst baut man sich den Popanz auf, um ihn dann anschließend lustvoll demontieren zu können.
Dabei ertappt der Leser den Autor leider auch bei Plattheiten wie der "kurzen Geschichte des NLP" oder der simplifizierenden Schlussfolgerung, dass es für Bernd Schmid "ein kleiner Schritt" von der Transaktionsanalyse zur systemischen Beratung gewesen sein muss (S. 44-45). Solcherlei dient nicht gerade dazu, das Vertrauen in das Buch zu stärken. Dabei bedient sich der Autor durchaus gediegener und dem im Thema Bewanderten bekannte Quellen. Doch statt diese entsprechend zu referieren, zu würdigen und kritisch zu diskutieren, pickt er sich lediglich Zitate heraus oder verweist in Fußnoten auf sie, um stattdessen die eigene Diktion zu stützen. Das Fatale daran: Es werden tatsächlich Auswüchse verdientermaßen gebrandmarkt. Doch die Art und Weise, wie dies geschieht, lässt den Eindruck entstehen, es sei typisch für die Branche. Womit der Autor nahe legt, zahlreiche redliche Coachs würden halbseidene Praktiken oder gar "Seelenflüsterei" (S. 81) betreiben; was eine unzulässige Verallgemeinerung wäre. So schüttet man das Kind mit dem Bade aus. Wem soll das nutzen?
Im zweiten Teil (Die Coachees) werden einige Coaching-Beispiele vorgetragen. Über die Auswahl erfährt der Leser wiederum nichts. Auch hier werden wieder einige Hypothesen aufgezählt, warum gerade heute Menschen das Coaching suchen (Auflösung der Familie, Verunsicherung, Globalisierung). Auch, dass es Führungskräfte oder Unternehmen geben mag, die dazu neigen, Coaching zu instrumentalisieren, wird vorgetragen. Darin spiegelt sich die altbekannte Kritik von Stefan Kühl wider.
Die Coaching-Branche ist ein Markt. Vor allem mit den Ausbildungen werde Geld verdient. Mit dem eigentlichen Coaching sei es hingegen schwieriger, einen befriedigenden Umsatz zu generieren, so der Autor, der damit schon wieder eine nicht begründete Behauptung in den Raum stellt: "Schon jetzt existiert ein großer Kreis unzureichend beschäftigter Coachs" (S. 154). Es ist schon länger bekannt, beispielsweise durch Jörg Middendorfs Coaching-Umfrage, dass die wenigsten Coachs ausschließlich mit Coaching ihr Geld verdienen, sondern ebenfalls als Trainer, Organisationsberater oder in anderer Tätigkeit. Wo ist das Problem? Der Autor will statt dessen "ein ausuferndes, brancheninternes Coaching-Prekariat" (S. 155) beobachtet haben - bleibt Belege dafür aber schuldig. Tja, und was soll man als Leser davon halten, wenn der Autor wenig später eine Person zitiert, die meint "es gebe an die 60 Millionen potenzielle Klienten in Deutschland"?
Unter "Grenzüberschreitungen" führt der Autor das "Sündenregister" eines namentlich nicht genannten "Coachs" auf. Er nutze das "Coaching" für finanzielle, sexuelle und psychologische Grenzüberschreitungen aus. Dem Autor gebührt Lob dafür, die Öffentlichkeit über solcherlei schmutzige Praktiken aufzuklären. Als Leser wundert man sich allerdings, warum er - mit einem großen Verlag im Rücken - hier nicht mutiger war, nicht Ross und Reiter genannt hat, tiefer und weiter recherchiert, es nicht auf einen Gerichtsprozess hat drauf ankommen lassen. Das wäre eine Heldentat gewesen! Damit hätte er sich um das Coaching verdient gemacht. Und zudem einen eigenen Beitrag zur Diskussion beigetragen. Statt dessen nutzt er den Fall, um wohlfeil anzumerken, es fehle der Branche an Selbstheilungskräften.
So bleibt die Frage: Wer kann dieses Buch mit Gewinn lesen? Die Akteure in der Coaching-Branche benötigen dieses Buch nicht. Sie kennen den Großteil der vom Autor zitierten Literatur eh und die Szene vermutlich noch besser. Die breite Zielgruppe potenzieller Klienten? Sie finden hier Fakten und Spekulationen vermischt und zu einem ambivalenten Fazit verwoben: Es gibt seriöse Akteure und Möchtegern-Coachs, aber auch gefährliche Scharlatane. Wie in jeder Branche, mag man anfügen. Werden nicht auch über manche Chirurgen Horrorgeschichten berichtet? Oder über etliche Abzocker in der Finanzbranche? Warum ziert dann den rückwärtigen Buchdeckel dieses Buchs die Überschrift "Beraten und verkauft?" - könnte man Ähnliches nicht von anderen Professionen behaupten? Und gehören nicht immer zwei oder mehrere zur Dienstleistungserbringung, ein Anbieter, ein Kunde und ein Kontext? Was bleibt also von der Empörungsrhetorik, die das Buch dramaturgisch durchpulst, übrig? Dass man sich vor einem "Wahn" fürchten muss, sicher nicht.
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