Vor einiger Zeit habe ich die Coaching-Kartensammlung "Change Talk" von Martina Schmidt-Tanger & Thies Stahl hier vorgestellt und empfohlen. So lag es nahe, sich auch ein ähnliches, unlängst publiziertes Opus anzuschauen und zu vergleichen: den "Expresso-Coach für Führungskräfte".
Zugegeben: meine Erwartungshaltung war vergleichsweise hoch. Dass ich allerdings beim ersten Kontakt mit diesem Karteikasten schon von der praktischen Handhabung unmittelbar enttäuscht werden würde, hätte ich nicht gedacht: Der Kasten ist so prall gefüllt, dass sich die Vorteile der Methode, nämlich Karten umstecken, anfassen, bewegen zu können, zum Nachteil entwickeln, weil die einzelnen Karten nur schwer zu entnehmen, geschweige denn gezielt zu bearbeiten sind.
Nach diesem ersten technischen Eindruck steht das Thema Navigation durch die Vielzahl der Karten an. Man erfährt dabei, dass es sich bei dem "Expresso"-Coach nicht etwa um einen Rechtschreib-"fähler" handelt. Diese Schreibweise stellt vielmehr eine Referenz an das Pareto-Prinzip dar. Der Anwender soll sich von hundertprozentigen Lösungen verabschieden und stattdessen in 20 Prozent der Zeit 80 Prozent der Ergebnisse erzielen. Außerdem sollen hier die Erkenntnisse im "Express-Tempo" sowie "expressiv", d.h. ohne Beiwerk auf den Punkt gebracht werden. Wer mit dieser innovativen Lesart nicht einverstanden sei, wird eingeladen, nebenbei einen "Espresso" trinken zu gehen Nun denn.
Die nächste Karte führt dann die Überschriften der einzelnen Abschnitte im Expresso-Coach auf: Unternehmen und Organisationen führen, Mitarbeiter führen, Von Coaching profitieren, Mit Ideen und Innovationen gewinnen, Sich selbst führen, Effizient arbeiten, Krisen und Probleme meistern, Zielgerichtet kommunizieren, Sicher und überzeugend auftreten, Miteinander arbeiten. Der Anwender soll sich damit orientieren und für ein Thema entscheiden. Etwas versteckt und erst auf Seite 112 findet man das ausführliche Inhaltsverzeichnis mit einer Zusammenstellung aller Einzelthemen nebst zufällig ausgewählten Beispielen wie: "Kontrollieren - aber richtig!" oder "In Netzwerken denken und Handeln", oder "Wo stehen Sie? Lebensphasen verstehen".
Durch die Nutzung unterschiedlicher Farben und verschiedener Spalten sind die einzelnen Karten als solche übersichtlich gestaltet. Sie enthalten - doppelseitig bedruckt - neben der Überschrift samt Erklärung und einem Aphorismus eines "großen Geistes" eine ganze Menge Text - und jeweils abschließend unter den Kategorien "ExpressoTipp", "ExpressoFokus" und "ExpressoBalance" zusätzliche geballte Lebenshilfe. Damit reiht sich der Inhalt in die lange Reihe der Führungskräfte-Ratgeber ein.
Den Ratschlägen ist durchweg zuzustimmen, es handelt sich allesamt um berechtigte Hinweise. Doch ist der Rezensent skeptisch, wie viele Leser sich tatsächlich durch die verschiedenen Ebenen von Überschriften navigieren werden, um sich dort - detailliert, präzise und wertschätzend - schriftlich belehren zu lassen. Wie so oft bei Gedrucktem hat der Rezensent den Eindruck, dass insgesamt auch hier "Weniger" "Mehr" gewesen wäre: Erheblich weniger Text - verbunden mit einem größeren Schriftgrad - hätte die meisten Karten wirksamer werden lassen. In der vorliegenden Form - trotz der sicherlich besten Absichten der Autoren - besteht doch eine große Gefahr, dass die Kartensammlung als nicht sonderlich gut handhabbar wahrgenommen wird und in der Folge eher als Schreibtisch-Dekoration denn als echte Referenzquelle verwendet wird.
Ein Wort noch zur Zielgruppe: Die Coaching-Community mag sich seit Jahr und Tag uneins sein, ob der Begriff des "Coaching" nur mit Blick auf den geschulten Experten oder nicht auch auf Führungskräfte angewandt werden sollte. Aber allemal kann es als unstrittig gelten, dass ein derart weitreichendes Themenspektrum wie das hier enthaltene mit "Coaching" kaum mehr etwas zu tun hat. Der Modebegriff wird somit schlichtweg für einen breit gefächerten Ratgeber für Werktätige verwendet, wobei sich nur ein Ausschnitt der Themen konkret an Führungskräfte im Sinne von Mitarbeiter-Führung richtet. Damit ist die Zielgruppe erheblich weiter gefasst als bei den eingangs erwähnten Coaching-Karten von Schmidt-Tanger & Stahl. Dies mag auch damit zusammen hängen, dass der Eichborn-Verlag sich doch deutlich sichtbar im Bereich der "gut lesbaren" Literatur bewegt und weniger den Anspruch "bier-ernster Fachliteratur" zu eigen macht. Dies macht das Werk nicht zwangsläufig schlechter, nur ist es allemal lohnenswert, sich vor dem Kauf der Vorteile und Einschränkungen gewahr zu sein.
Ob sich die Investition letztlich lohnt, bleibt Einstellungssache. Für solche praktische Lebenshilfe spricht, dass sich schon mit einem tatsächlich beherzigten Tipp der Kaufpreis schnell rentiert hat. Auch enthält das seltenere Medium "Karteikasten" Vorteile gegenüber dem "Buch im Regal". Beim Rezensenten bleibt dennoch auch gegen Ende der Eindruck bestehen, dass bei der hier realisierten Idee (noch) mehr möglich gewesen wäre.
Dr. Klaus Stulle