Cover: Nachhaltig denken und handeln: Coaching für Politiker. Göttingen: VR.
Elke Esders

Nachhaltig denken und handeln: Coaching für Politiker. Göttingen: VR.

Rezension von Dr. Christine Kaul

3 Min.

Anders als der Buchtitel nahelegt, ist dies keine Veröffentlichung, die auf Coaches als Leser zielt, vielmehr handelt es sich um ein Selbsthilfebuch, das Politikern den Zugang zu professionellem Coaching erleichtern, wenn nicht gar einen Coach ersetzen soll. Zielgruppe ist im engeren Sinne der "Politiker-Lehrling", Anfänger also insbesondere im Europäischen Parlament, aber nicht nur dort.
Die Autorin erweist sich als profunde Kennerin der politischen Szene in Brüssel/Straßburg. Es gelingt ihr deshalb anschaulich, wenn nicht sogar spannend von diesem hochkomplexen Aktionskontext zu berichten. Ihr Politiker-Ideal, zu dem sich der Leser-Klient hin entwickeln soll, ist mehr als anspruchsvoll. Authentisch soll er sein, Charisma entfalten; angetrieben durch seine Werte, verfolgt er sinngeprägte Ziele. Lebenslanges Lernen und persönliches Wachstum, Nachhaltigkeitsdenken und ganzheitliches Vorgehen machen ihn zu einer inspirierenden Persönlichkeit.
Schritt für Schritt geht Esders mit dem Lesenden an die Realisierung oder zumindest Bewusstmachung dieser Vision. Dazu bietet sie Beispielpersonen an, die sich den typischen Herausforderungen der Legislaturperiode stellen. Abgerundet werden die einzelnen Kapitel mit Übungen zu Selbstreflexion oder zu konkreten Aktionen, wie etwa dem Aufbau eines überlebensnotwendigen Netzwerks.
Ihr Menschenbild und Coaching-Konzept ist von hohem moralischem Ethos geprägt, der in jedem Arbeitsschritt deutlich wird. Dazu gehört, neben der Sorge für sich selbst, immer auch das Nachdenken darüber, welche Konsequenzen, Wirkungen und Nebenwirkungen persönliche, private und politische Entscheidungen haben. Coaching, so ihre Überlegung, muss letztlich das Ziel haben, den Politiker dabei zu unterstützen, Entscheidungen treffen zu können, für die er als ganze Person stehen kann. Einen sehr lesenswerten Exkurs widmet die Autorin dem Thema der politischen Sprache.
Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang gewesen, wenn die Autorin differenzierend und kritisch auf eine "Berufskrankheit" von Politikern eingegangen wäre. Psychologen neigen ja gelegentlich dazu, den Anderen als zu analysierendes Individuum zu verkennen, wie auch Lehrer die Welt mit Zu-Belehrenden bevölkert sehen können. Die déformation professionnelle des Politikers ist es, die Menschen, mit denen er zu tun hat, unterschiedslos als Zu-Überzeugende zu verstehen, was zu permanent akquisitorischem, persuasivem Verhalten führt. Esders fördert diese Entwicklung leider insofern, als sie Überzeugungsvermögen immer wieder als notwendig attribuiert. Schade: Denn Authentizität und Verführermentalität harmonieren nur bei Könnern. Die Blessuren, die durch Mikropolitik (auch in der eigenen Fraktion) entstehen, werden leider nur kurz gestreift, obgleich sich diese erfahrungsgemäß zu "schwärenden Wunden" entwickeln können.
Die Autorin hat - das macht ein Blick ins Literaturverzeichnis deutlich - offenbar versäumt, sich dem Thema "Impression Management" von Politikern von der wissenschaftlich-empirischen Seite her zu nähern. Die immer noch hoch relevante und lesenswerte Veröffentlichung von Laux & Schütz "Wir, die wir gut sind" (1996) hätte mehr als einer Erwähnung bedurft.
Trotz dieser kritischen Aspekte handelt es sich um ein schönes und lehrreiches Buch, ganz besonders auch für Nicht-Politiker (also die WählerInnen). Denn hier wird das ganze Spektrum der Anforderungen an, Herausforderungen (und auch Überforderungen) für die Volksvertreter im Europa-Parlament beeindruckend ausgebreitet. Lesenswert auch, um vor den Wahlen weiterführende Fragen an die Kandidaten stellen zu können, die Aufschluss geben über dessen Wählbarkeit - was Werte und Wahrhaftigkeit anbelangt.
Für Politikneulinge in Brüssel ist möglicherweise manches etwas zu spät thematisiert. Die Frage nach der Umsetzbarkeit der eigenen poltischen Zukunftsvorstellungen wird sich der politisch Interessierte vermutlich schon vor dem Eintritt in eine Partei gestellt haben, aber Esders macht deutlich: In der Hektik und Getriebenheit des politischen Alltags tut es gut, hin und wieder inne zu halten und Zeit für diese Fragen zu finden.

Dr. Christine Kaul

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