„Wir sind Geschichtenerzähler und geben unserem Leben und unserer Welt durch Geschichten einen Sinn.“ (S. 238) So lautet eine Grundannahme der narrativen Psychologie. So weit so einfach. Das Buch „Narrative Praxis“ gibt, keinesfalls simplifizierend und weit jenseits von Tools und psychologischen Schulen, einen differenzierten und wissenschaftlich fundierten Einblick in Theorie und Praxis narrativer Psychologie.
Bei den insgesamt 46 Autorinnen und Autoren handelt es sich um renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Praktiker. Sie bringen vielfältige Aspekte in den Diskurs ein, sodass sich das Wahrnehmungsfeld von (Business-) Coaches in Bereiche wie Therapie, Psychiatrie, Jugendhilfe, Familientherapie oder die Arbeit mit Geflüchteten erweitert.
Das Werk stellt narrative Praxis in diesen Systemen in den Mittelpunkt und widmet sich auch dem Storytelling in Organisationen. Dabei wird deutlich: Narrative Praxis ist genuin macht- und herrschaftskritisch. Sie hinterfragt mit Bezug auf Foucault jede Form von Diskursmacht über das, was von wem (beispielsweise einem Coach) wie gesagt wird. Weitere vorgestellte theoretische, postmoderne und poststrukturalistische Konzepte sind das von Deleuze eingeführte rhizomatische Denken: Rhizom steht als Metapher für ein Verständnis des Selbst als fluides, multiples, nicht hierarchisches Selbst; Derridas Ansatz der Dekonstruktion dient zur Befreiung von sprachlich konstruierten Begrenzungen, und Briadottis Idee eines nomadischen Selbst hebt kreativ und neu zu schaffende gleichwertige Beziehungen in einem umfassenden Netzwerk von Mensch/Natur hervor. Diese Ansätze erweitern die Coaching-Theorie.
Die Begründer der systemischen narrativen Psychologie, David Epston (Familientherapeut) und Michael White (Sozialarbeiter, Therapeut), greifen darauf zurück. Ihr Ansatz, der genuin aus der Praxis sozialer Arbeit mit Familien in Neuseeland und Australien erwachsen ist, ist nicht schulenmäßig hergeleitet, aber konsequent kritisch und politisch.
Narrative Psychologie thematisiert neben der Geschichte selbst den Kontext, die historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen des Erzählens inklusive der inhärenten Machtstrukturen. Im Zentrum steht ein Erzählen, das es Individuen und Systemen ermöglicht, Erfahrung und Wahrnehmung von Wirklichkeit und damit Handeln und Interaktion zu strukturieren und sinnhaft einzubinden. Ziel der narrativen Praxis ist es, einen dialogischen Raum zu schaffen, in dem verdrängte und unterdrückte Geschichten (Geschichten marginalisierter und unterdrückter Gruppen und Individuen), lokales Wissen, Fragmentiertes und Diskontinuierliches zur Sprache kommen können. So kann eine problembelastete Erzählung, mit der Klienten beispielsweise ins Coaching kommen, um ressourcenstarkes Erleben und Erzählen angereichert und verdichtet werden, sodass eine neue Erzählung entstehen kann. Hierfür liefert das Buch gute Beispiele.
Das lesenswerte Buch gliedert sich in fünf Kapitel: Im ersten Teil stehen die theoretischen Zugänge im Vordergrund. Im zweiten sind methodische Zugänge, aber keine Tools das Thema. Der dritte Teil beleuchtet narrative Praxis in verschiedenen sozialen Kontexten (Psychiatrie, Jugendhilfe, Organisationen), während es im vierten Teil um Erweiterungen des narrativen Ansatzes, z.B. Bindungstheorie und Embodiment, geht. Abschließend wird narrative Praxis anschaulich in politischen Zusammenhängen vorgestellt: mit Ehrenamtlichen in der Arbeit mit Geflüchteten und im Kontext der Pandemie, in Friseursalons schwarzer Communities, als Überwindung des Opfernarrativs bei sexualisierter Gewalt und im Zusammenhang mit Vertreibungsgeschichte.
Fazit: Es handelt sich um ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes Grundlagenwerk. Alle 30 Beiträge reflektieren den theoretischen Hintergrund, liefern Beispiele, sind übersichtlich und kurz gehalten und stehen für sich. Unbedingt empfehlenswert für alle, die ihren Horizont erweitern möchten.
Dr. Friederike Höher
www.friederike-hoeher.de